Wahlbeobachtung bei der Bundestagswahl 2025: "Über 800 dokumentierte Verstöße"

Eine private Initiative dokumentiert systematische Verstöße gegen Wahlvorschriften – mit möglicherweise weitreichenden Folgen für die Sitzverteilung im Parlament

Die demokratischen Verfahren in Deutschland, oft als vorbildlich gerühmt, stehen unter kritischer Beobachtung. Eine Bürgerinitiative namens "WABEO" hat nach der Bundestagswahl vom 23. Februar 2025 einen bemerkenswerten rechtlichen Vorstoß unternommen: Gestützt auf einheitlich dokumentierte Beobachtungen in mehr als 1.500 Wahllokalen haben die Aktivisten einen umfassenden Einspruch beim Wahlprüfungsausschuss eingereicht. Das 23-seitige Dokument, verfasst vom Rechtsanwalt Ralf Ludwig, dokumentiert über 800 Verstöße gegen die deutsche Wahlgesetzgebung.

Öffentlichkeitsprinzip als Achillesferse des Wahlsystems

Im Zentrum der Kritik steht die mangelnde Transparenz bei der Stimmenauszählung. Die Gruppe belegt, dass in 19 Prozent der beobachteten Wahllokale grundlegende Verfahrensvorschriften missachtet wurden. Besonders oft wurde die Pflicht zur öffentlichen Verkündung der Ergebnisse verletzt – in 234 dokumentierten Fällen unterließen es die Wahlvorstände, die Resultate mündlich so bekannt zu geben, wie es das Gesetz vorsieht.

Der Einspruch verdient auch deshalb Beachtung, weil WABEO die ersten Wahlbeobachter waren, die methodisch fundiert vorgegangen ist. Die Beobachter erfassten die Wahlvorgänge nach einheitlichen Kriterien und kommen zum Schluss, dass in etwa 80 Prozent der Fälle alles korrekt abgelaufen sei. Dies widerlegt das Argument, die vorgeschriebenen Verfahren seien in der Praxis nicht umsetzbar.

Die Dokumentation umfasst aber auch 20 Fälle, in denen Wahlbeobachtern die effektive Beobachtung verwehrt wurde, was einen klaren Verstoß gegen § 10 des Bundeswahlgesetzes (BWG) darstellt. Einer der Beobachter schilderte: "Wir kamen ca. 17.50 Uhr am Wahlabend in das Wahllokal. [...] Der Wahlleiter wandte sich nun direkt an uns Wahlbeobachter. Er sagte uns, wo wir uns ab jetzt und während der Aufzählung aufzuhalten haben. Die uns zugewiesene Position befand sich mindestens sechs Meter vom Tisch entfernt, wo die Wahlscheine sortiert und ausgezählt werden sollten. Wir hatten somit nur die Möglichkeit, die Bewegung der Menschen im Raum zu beurteilen, jedoch nicht die Auszählung selbst."

In 234 Wahllokalen wurde die öffentliche Bekanntgabe der Ergebnisse missachtet, was einen Verstoß gegen § 70 Satz 1 der Bundeswahlordnung (BWO) darstellt. Ein typischer Eintrag in den Protokollen lautet schlicht: "Die Schnellmeldung wurde von einem anderen Raum ohne Beobachtungsmöglichkeit durchgegeben."

Methodische Mängel und fehlende Kontrollen

Besonders bedenklich erscheinen die dokumentierten Mängel bei der Auszählung selbst. In 13 Fällen wurden schwerwiegende Verstöße gegen die Kombination von § 69 BWO und § 10 BWG festgestellt, die die Grundprinzipien einer nachvollziehbaren Auszählung betreffen: "Es wurde nicht im ersten Schritt die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmzettel festgestellt, wodurch auch keine Kontrollmöglichkeit zwischendrin bestand. In keiner Phase wurden dabei Kontrollgesamtzahlen generiert, sondern zügig die Wahlzettel gemäß Stapel je Partei jeweils einmal durchgezählt und vom Vorsitzenden in seinen Unterlagen notiert. Der Wahlhelfer regte, nachdem er eine Partei durchgezählt hatte, an, dass sein Stapel nachgezählt wird, worauf aber niemand einging."

Bei der zentralen Frage der Wahlurnen-Integrität dokumentierten die Beobachter ebenfalls Verstöße gegen § 10 BWG: "Ich war zehn Minuten vor 18 Uhr im Wahllokal und wurde sofort nach draußen gewiesen, weil ich beobachten wollte. So konnte ich nicht sehen, ob die Urne verschlossen war, versiegelt war oder das Siegel beschädigt. Da die Urne kurz nach 18 Uhr ohne Zögern und ohne den verschlossenen, unbeschädigten Zustand zu zeigen geöffnet wurde, konnte ich hierzu auch nichts beobachten."

Die Dokumentation zeigt zudem 31 Fälle mit erheblichen Mängeln bei der Sicherung der Wahlunterlagen gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 BWO: "Die Stimmzettel wurden nach der Auszählung in Plastiktüten gepackt, die darin enthaltene Anzahl der Stimmen wurden mit Bleistift auf die Tüte geschrieben. [...] Die Wahlniederschrift wurde nicht in meiner Gegenwart unterschrieben bzw. war man sich einig, dass sie ja schon mittags unterschrieben haben."

Kontrolldefizite und institutionelle Widerstände

Besonders problematisch ist, dass die Bundeswahlleiterin bis heute auch keine Einzelergebnisse aus allen Wahlbezirken veröffentlicht hat. Diese werden erst nach Ablauf der Einspruchsfrist bekannt gegeben – ein Umstand, der einen umfassenden Abgleich der beobachteten Ergebnisse in den Wahllokalen mit den offiziellen Wahlergebnissen unmöglich macht.

Der Einspruch beleuchtet die Rolle der übergeordneten Wahlorgane besonders kritisch unter der Überschrift „Verweigerung der Offenlegung durch Anweisung von oben“. Die Beobachter stießen auf erhebliche organisatorische Mängel: Mehrere Kreis- und Landeswahlleiter konnten nicht einmal Auskunft darüber geben, welche Wahlbezirke in ihrem Zuständigkeitsbereich überhaupt Ergebnisse melden sollten. Dies wirft Fragen zur Zuverlässigkeit der gesamten Ergebniserfassung auf.

In mehreren Fällen berichteten die Beobachter von einschüchterndem Verhalten: "Wir wurden außerdem von zwei Offiziellen in Privatklamotten unangenehm auf alles Mögliche hingewiesen, sollten überhaupt nicht sprechen dürfen usw. Ein Recht, das Ergebnis der Auszählung zu bekommen, hätten wir auch nicht. Auch diejenigen, die auszählten, wurden darauf hingewiesen und waren eingeschüchtert."

Aufschlussreich ist auch die Reaktion einiger Wahlbehörden auf die Beobachter. In einem dokumentierten Fall bezeichnete eine Kreiswahlleiterin die Wahlbeobachtung als "Schwächung der Demokratie durch das Säen von Misstrauen" – eine Haltung, die das deutsche Bundesverfassungsgericht in früheren Urteilen klar zurückgewiesen hat. Für das Gericht ist die öffentliche Kontrolle ein "unverzichtbares Element des demokratischen Wahlverfahrens".

Grundsatzfrage für die deutsche Demokratie

Die Forderung der Initiative geht über eine bloße Nachzählung hinaus. Ihre juristische Argumentation stützt sich auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das die Bedeutung des Öffentlichkeitsprinzips bei Wahlen mehrfach betont hat. Eine bloße Nachzählung kann die festgestellten Verstöße nicht heilen, da die "Kette der öffentlichen Nachvollziehbarkeit irreversibel unterbrochen" ist. Die Nichtöffentlichkeit lässt zu, dass das erfasste Ergebnis möglicherweise nicht dem tatsächlichen Wahlergebnis entspricht. Es ist also eine Neuwahl in den betroffenen Wahlbezirken notwendig.

Die 1.500 dokumentieren Wahlbeobachtungen verteilt im ganzen Bundesgebiet stellen eine statistisch repräsentative Größenordnung dar, die darauf schließen lässt, dass 10-20% aller Wahlbezirke in Deutschland die Ergebniserfassung nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde!

Da die übergeordneten Wahlleiter selbst nicht zweifelsfrei wissen, ob die Ergebniserfassung korrekt erfolgte, muss damit gerechnet werden, dass fehlerhafte Ergebnisse erfasst wurden. Wenn aber in 10% der Wahlbezirke auch nur eine Stimme falsch erfasst wurde, könnten dies in Summe auch die fehlenden ca. 10.000 Stimmen sein, die dem „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) zum Überschreiten der Fünf-Prozent-Hürde fehlten.

In den beanstandeten Wahlbezirken wurden fast 100.000 Stimmen abgegeben – und diese Zahl umfasst nur jene Stimmen, die die Beobachter am Wahlabend tatsächlich dokumentieren konnten. In vielen Wahlbezirken war es den Beobachtern aufgrund der Nichtöffentlichkeit der Ergebnisse unmöglich, die tatsächlichen Zahlen zu erfassen und mitzuschreiben. Allein in Berlin wurde in 91 Briefwahlbezirken keine Öffentlichkeit hergestellt. Dort wurden mindestens 100.000 weitere Stimmen ausgezählt.

Mögliche Auswirkungen auf die politische Landschaft

Die politische Bedeutung des Einspruchs ergibt sich aus einer anderen bemerkenswerten Konstellation, die im Einspruch als „Integrationsangebot“ formuliert wurde: Die neue Partei BSW verpasste den Einzug in den Bundestag nur knapp – ihr fehlten lediglich 9.529 Zweitstimmen, um die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. Allerdings hätte das BSW laut dem offiziellen Endergebnis volle 34 Mandate, wobei zur Bildung einer eigenen Fraktion im Bundestag 34,5 Mandate ausreichen.

Das Angebot formuliert die Unverhältnismäßigkeit, die 5%-Hürde bei den Zweitstimmen bei der diesjährigen Bundestagswahl im Fall der Partei BSW anzuwenden, weil der vom Verfassungsgericht mehrfach formulierte Sinn dieser Hürde auch dann erhalten bliebe. Von einer „Zersplitterung des Parlaments“ kann bei 34 Sitzen nicht die Rede sein. Gleichzeitig würden so den durch Beobachtung von WABEO sehr wahrscheinlichen 10% Fehlern bei der Auszählung bundesweit Rechnung getragen.

Beantragt wurde daher primär eine Nichtanwendung der Sperrklausel aufgrund der beobachteten Unregelmäßigkeiten und hilfsweise eine Neuwahl in den betroffenen Wahlbezirken mit Verstößen gegen das Öffentlichkeitsprinzip.

Für die deutsche Demokratie steht einiges auf dem Spiel: Sollte der Einspruch erfolgreich sein, könnte dies nicht nur die Sitzverteilung im aktuellen Bundestag verändern, sondern auch die künftige Durchführung von Wahlen in Deutschland nachhaltig beeinflussen. Der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages muss über Hunderte von Einsprüchen beraten – aber zum ersten Mal über einen mit potenziell so weitreichenden Folgen für die ausführenden Wahlorgane sowie die politische Landschaft der Bundesrepublik.


Dateien:

  1. 20250506_Bericht zum Wahleinspruch_BTW25.pdf